Ruan Lingyu, die „Garbo des Ostens“, spielt in diesem Gesellschaftsdrama eine alleinerziehende Mutter, die zur Sexarbeiterin wird, um ihrem Sohn eine Schulausbildung zu ermöglichen. Der Film zeigt eindrucksvoll die soziale Ausgrenzung von Mutter und Sohn, thematisiert Armut, gesellschaftliche Doppelmoral und das harte Leben von Frauen im Shanghai der 1930er Jahre. SHENNÜ gilt als Meisterwerk des chinesischen Stummfilms – tief emotional, gesellschaftskritisch und mit einer herausragenden schauspielerischen Leistung der Hauptdarstellerin Ruan Lingyu, zu deren Ehren die neue Restaurierung erfolgte.
Anders als bei amerikanischen Vorbildern wie Josef von Sternbergs BLONDE VENUS, als dessen chinesisches Remake SHENNÜ zu verstehen ist, steht hier nicht die Selbstverwirklichung der Frau im Vordergrund, die – selbst ohne Familie geblieben – angesichts der Bedeutungslosigkeit ihres Geschlechts in der chinesischen Gesellschaft längst mit ihrem Leben abgeschlossen hat. Vielmehr betont Wu Yonggang ihre Mutterliebe, die alle Dogmen und gesellschaftlichen Riten in den Schatten stellt. […]
Sympathie und Bewunderung für die Protagonistin werden über die einfühlsame Zeichnung dieser tragischen Figur hinaus auch dadurch geweckt, daß ihre Rolle mit der „Gottheit“ der damaligen Filmwelt Chinas besetzt wurde, der Schauspielerin Ruan Lingyu (1910-1935). So verweist der Regisseur bei dieser Bezeichnung ihres Berufsstandes nicht zufällig auf das Gedicht „Chang E“ des Tang-Dichters Li Shangyin (813-858), sondern stellt darüber eine Verbindung zwischen der gespielten Rolle und dem persönlichen Schicksal ihrer Darstellerin her. Diese Diva des chinesischen Kinos wurde durch ihren tragischen Selbstmord kurze Zeit nach Vollendung dieses Films zu einer Repräsentantin der unterdrückten Frauen und Vorkämpferin für mehr Menschlichkeit und ein gerechteres Gesellschaftssystem im Reich der Mitte.
Stefan Kramer: Geschichte des chinesischen Films. Stuttgart 1997
GODDESS is iconic in multiple senses. It creates a compelling image of the figure of the fallen woman, and by extension of Shanghai as a corrupt metropolis, and it cemented the iconography of Ruan Lingyu herself as a screen “goddess” in her prime who was to die by her own hand just a few months later. GODDESS itself, in turn, came to be emblematic of the glamor and pathos of Shanghai cinema’s first golden age.
The film’s title carries a double meaning: “shennü” suggests a supernatural female (a “nüshen”), but the term in 1920s Shanghai was also a euphemism for prostitute. The virtuous prostitute was a familiar trope. One of modern China’s first best sellers was the 1895 translation of Alexandre Dumas fils’ “La dame aux camellias” (1848), a novel about a beautiful, free-spirited, but doomed Parisian courtesan. GODDESS shares with the Dumas novel an emotional register of pathos, sympathy, condescension, and sexual titillation, all wrapped up in a rescue fantasy.
Fallen woman films, which focus on the figure of a sexually transgressive and suffering woman, were a fixture of silent cinema. […] Wu Yonggang recalled in his memoir that D. W. Griffith’s WAY DOWN EAST (1920), in which Lilian Gish’s character is tricked into a sham marriage and abandoned while pregnant, was a formative influence on his filmmaking.
Christopher Rea, Chinese Film Classics, 1922-1949. New York, 2021