Beispielhaft für das sozialkritische Kino der späten Stummfilmzeit erzählt der semi-fiktionale, semi-dokumentarische Film vom Leben der Landstreicher. Etwa eine halbe Million Vagabunden ist Ende der 1920er Jahre in Österreich und Deutschland unterwegs. Der Film thematisiert ihre soziale Ausgrenzung und schildert die harte Realität am Rande der Gesellschaft. In einer Nebenrolle ist der „König der Vagabunden“ Gregor Gog zu sehen, der 1927 die „Bruderschaft der Vagabunden“ gründete. Überliefert ist DER VAGABUND nur in einer gekürzten niederländischen Fassung, auf der die neue Restaurierung basiert.
Die „Arbeitsgemeinschaft Neuer Film“, die den VAGABUND herstellt, ist eine Vereinigung junger Leute, die es sich in den Kopf gesetzt hat, zu beweisen, daß Filmkunst und Filmindustrie doch zwei weltenverschiedene Begriffe sind. Sie dreht einen Film ohne Konzessionen, ohne kommerzielle Rücksichten, sie dreht unter den größtmöglichsten Schwierigkeiten und schaffte dennoch ein Werk, das allerstärkste Beachtung findet, an dem man seine reine, helle Freude hat. […]
Fritz Weiß hat Regie geführt. Er dichtet Bilder, von starker Symbolik erfüllt, er arbeitet unbarmherzig Gegensätze heraus, er hat den Mut, dem Kinopublikum eine grauenvoll echte Fratze – beileibe keine Karikatur – von ihm zu zeigen. In manchen Szenen, wie z. B. den im Kerker, da der Vagabund stirbt, erreicht er Wirkungen von unheimlicher Kraft. Josef Ambor hat herrliche Bilder geschaffen. Die österreichische Berglandschaft lebt in diesem Film wie niemals zuvor. […]
VAGABUND ist keine „Dreitageerscheinung“. Er wird jedem, der ihn sieht, einen starken Eindruck hinterlassen. Und es ist zu wünschen. daß ihn recht viele sehen.
H. S., Wiener Allgemeine Zeitung, 23.4.1930
Der Idealtypus des Vagabunden ist der mit literarischen und philosophischen Ambitionen liebäugelnde „Kunde“, seine Vorbilder sind Rimbaud, Villon, Whitman, Jack London; seine Zeitgenossen Knut Hamsun, Maxim Gorki, Sinclair Lewis und, mit einigen Einschränkungen, Alphons Paquet, die sich mit dieser Bewegung geistig verbunden fühlen, und dieser geistigen Verbundenheit in wiederholten Kundgebungen an die Bruderschaft der Vagabunden Ausdruck gegeben haben. […] Gregor Gog, der geistige Führer der Vagabunden, der diesem eigenartigen Filmwerk Pate stand, sagt irgendwo über seine Schicksalsgenossen: „Vagabund sein, ist ein Beruf. Vagabund sein, das liegt im Blute, das läßt sich nicht lernen. Sein oberstes Gesetz ist die Kameradschaftlichkeit. Oft wird tagelang durchgehungert, denn der Kunde ist ein bedürfnisloser Mensch. Man ist stetig auf der Walz, trägt Gott im Herzen, oder was der Vagabund eben Gott heißt, lacht mit dem Sonnenschein und nährt sich im übrigen von der köstlichen Luft, von der man auf der Landstraße immer eine Nasevoll haben kann.“
Das ist Quelle und Mündung des Films. Trotz der geringen Geldmittel, die der strebsamen Arbeitsgemeinschaft zur Verfügung standen oder gerade darum, ist was Rechtes daraus geworden.
Der Abend, Wien, 25.4.1930