DER MANN MIT DER KAMERA, im ukrainischen Original LJUDYNA Z KINOAPARATOM, aber besser bekannt unter seinem russischen Titel ČELOVEK S KINOAPPARATOM, ist ein absoluter Klassiker des Avantgardekinos. Als einer der einflussreichsten Dokumentarfilme aller Zeiten und eine der bekanntesten und insbesondere radikalsten „Stadtsinfonien“ der 1920er-Jahre dokumentiert dieses Werk ganz ohne Zwischentitel einen Tag im Leben eines Filmkameramanns in der Sowjetunion. Dabei vereint das Filmexperiment Bilder des modernen Stadtlebens mit Aufnahmen, die den Entstehungsprozess und das Betrachten des Films im Kino dokumentieren. Produziert wurde DER MANN MIT DER KAMERA von der in Kiew ansässigen VUFKU (eine Abkürzung von „Allukrainische Foto- und Filmverwaltung“), gedreht wurde unter anderem in Kiew, Odessa und Moskau. Der Rhythmus des modernen Lebens, der hier buchstäblich mit dem Rhythmus des Films vereint wird und die Betrachtenden in seinen Bann zieht, wird durch experimentelle Aufnahme- und Montagetechniken betont, wie Splitscreens, Zeitraffer, Jump Cuts oder Mehrfachbelichtungen. Eine wichtige Rolle spielte hier neben Autor und Regisseur Dziga Vertov und Kameramann Michail Kaufman, der in seiner Tätigkeit hinter und, als Protagonist des Films, auch vor der Kamera zu sehen ist, Vertovs Ehefrau und Schnittmeisterin Elizaveta Svilova, die für die grandiose Montage des Werks und dessen kaleidoskopische Atmosphäre verantwortlich war. Im Westen lange in beschnittenen Kopien mit verschmälertem Bildausschnitt bekannt, zeigen wir zum ersten Mal in Bonn die 2010 vom Eye Filmmuseum restaurierte Vollbild-Fassung, die auch die ursprüngliche Aktstruktur des Films wiederherstellt.
Filmreportage großen Stils: das kann sehr reizvoll sein, wenn sich das Leben der großen Stadt wie ein Riesennotizbuch aufblättert, mit einer Fülle von Einzelzügen, mit Beobachtungen, mit heimlich erlauschen Bildnotizen, mit all dem Durcheinander von unbeachteten Abenteuern, Tragödien, Possen – kurzum, für ein wachsames, neugieriges Auge eine unerhörte Aufgabe. Dsiga Werthoff wagt diesen Versuch, und bringt Interessantes, Reizvolles, Charakteristisches nach Haus.
Bildnotizen eines Reporters sind es nun gerade nicht, was dieser Film sichtbar macht. Die einzelnen Momente sind ausschließlich gewählt mit Rücksicht auf den rhythmischen Zusammenhang des Ganzen, nicht auf ihre charakteristische Einzelbedeutung. Die „Montage“ feiert ihren ausgiebigsten Triumph. […] Wertow hat bei alledem ein außerordentlich interessantes Werk geliefert. Es ist zwar nicht so sehr Moskau und Kiew, als eine Großstadt überhaupt. Mit einem verfeinerten, geübten Auge sieht Wertow die photographischen Möglichkeiten der Stadtarchitektur.
Rudolf Kurtz, Lichtbild-Bühne, Nr. 157, 3.7.1929
As one of the most significant events of the year there comes to my mind Frankfurt and Dsiga Vertoff at a matinée explaining the theory of the Kinoki (the kino-eye) of which he is the inventor, not in words alone, but with the help of clear and beautiful examples of his work amply demonstrating his ability to translate his theory into practice.
Kinoki is unposed, unplayed film, independent both of actors and of studio. Vertoff watches human expressiveness, gestures, incidents, and when he succeeds in surprising these at their characteristic moments he registers them and produces results that are extraordinarily valuable.
But this is not enough for him. In his last film, THE MAN WITH THE MOVIE-CAMERA, he shows us the ropes of artistic creation. When he has aroused our emotions and carried us away with a powerful scene, he shows the operator filming the scene or the montress joining the strips of film.
One might imagine that his films can be no more than intelligent reporting. They are nothing of the kind. They are complete creations.
Jean Lenauer, Close-Up, No. 6, December 1929