Lyda Borelli ist der glänzende Star in diesem Klassiker desitalienischen Divenfilms. Sie spielt eine arme Prostituierte, die ihr uneheliches Kind zurücklässt. Später gelingt es ihr, der Prostitution und der Armut zu entfliehen, und sie wird zur Ersatztochter eines wohlwollenden kinderlosen Grafen. Aber das Schuldgefühl wegen des verlassenen Kindes lässt sie nicht los und sie setzt alle Kräfte in Bewegung, um es wieder zu finden. Nach Jahren werden Mutter und Sohn tatsächlich wieder vereint – aber wie es das Schicksal so will, ist dies keine glückliche Zusammenkunft. Durch die schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin und die atmosphärischen, prachtvoll gefärbten Aufnahmen bürgt FIOR DI MALE für die künstlerische Fortschrittlichkeit des italienischen Kinos der 1910er Jahre. Die anscheinend einzige erhaltene Kopie dieses Meisterwerks wurde in der umfangreichen Sammlung des niederländischen Filmverleihers Jean Desmet entdeckt und in den 1980er Jahren vom Nederlands Filmmuseum (heute EYE Filmmuseum) umkopiert.
Natürlich hat die Borelli mehrere ausgesprochen typische Züge und Gesten, die man deshalb leicht als von ihr stammend identifizieren kann: ihr Aubrey-Beardsley-haftes Profil, ihre ziemlich schmale Gestalt, ihr langes blondes Haar und ihre langgliedrigen Finger; ihre bereits erwähnte Art, einen Mann zu gleicher Zeit zu küssen und ihn doch auch wegzustoßen; ihre ungewöhnliche Manier, die Hand zu geben; wie sie ihre lange Haartracht löst, wenn sie ihren Emotionen freien Lauf läßt; wie sie das Gesicht mit ihren Haaren oder Kleidern bedeckt, um sich die Sicht auf eine schreckliche Szene wie den Anblick eines toten Geliebten zu verdecken, sich aber auch vor dem Gedanken und der Erinnerung an den toten Liebhaber zu schützen; ihr sarkastisches Lächeln; doch vor allem die unglaubliche Geschmeidigkeit, mit der sie in Trauerszenen ihren Körper in sichzusammensacken läßt oder ihn in Freude und Hysterie streckt. Einige dieser Auftritte, die durch großen Schmerz (MA L'AMOR MIO NON MUORE, FlOR DI MALE) oder Wahnsinn (MALOMBRA, LA DONNA NUDA) geprägt sind, erinnern an die Solioder die Arien einer Diva aus der Oper, ein Genre, das wohl als Modell für Bordellis Ausdruck dient. In den meisten dieser Szenen mit extremen Gefühlsausbrüchen ist sie einsam und allein; sowohl physisch wie auch geistig fehlt ihr jemand, der ihr beisteht.
Ivo Blom, KinTop9, 1998 (Übersetzt von Sabine Lenk)
Wir zeigen diesen Film im Rahmen unseres Divafilm-Doppelprogramms. Der erste Film ist SEINE GELEHRTE FRAU / FRAUEN, DIE NICHT HEIRATEN SOLLEN.